Einsatzmöglichkeiten / Methoden
Abschnittsübersicht
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(Digitale) Barrierefreiheit kann so vielfältig sein wie die Nutzer*innen selbst. Folglich werden allgemein gültige Grundsätze zur Orientierung dargestellt.
Universal Design for Learning
Das universelle Design sollte ursprünglich bauliche Barrieren beseitigen. Daraus entwickelten sich weitere Ansätze, unter anderem das Universal Design for Learning (UDL). Für UDL wurden – aufbauend auf den Prinzipien von Universal Design – drei weitere Prinzipien mit ergänzenden Richtlinien entwickelt. Im Zentrum des Ansatzes stehen flexible Lernangebote, die für möglichst viele TN nutzbar sind[6]:
- Bereitstellung von unterschiedlichen Darstellungen, um Lernen durch Wahrnehmen und Erkennen zu unterstützen
- Ermöglichung verschiedener Formen des Ausdrucks, um strategisches Lernen zu begünstigen
- Angebot verschiedener Arten der Beteiligung und der Motivation, um affektives Lernen zu bestärken.
Zwei-Sinne-Prinzip
Beim Erstellen von digitalen Lehr-/Lernmaterialien, Skripten und Handouts sowie bei der Gestaltung von Lernumgebungen bildet das Zwei-Sinne-Prinzip eine wesentliche Grundlage. Gemäß diesem Prinzip sind (Lern-)Inhalte über mindestens zwei der drei Sinne – Sehen, Hören und Tasten – erfassbar. So wird bei Einschränkungen ein Ausgleich über einen anderen Kanal möglich.
Barrierefreie Textdokumente und Präsentationen
Dokumentation, Struktur und Verweise
Für die eigene Lehre gilt grundsätzlich, dass Barrierefreiheit dann erreichbar wird, wenn eine möglichst vollständige (schriftliche) Dokumentation zur Verfügung steht. Das ist für TN von Nutzen, die nicht regelmäßig am Unterricht teilnehmen können und für TN, die nicht selbst mitschreiben können oder Schwierigkeiten dabei haben. Ebenso sollten Unterlagen nach Möglichkeit vorab zur Verfügung gestellt werden. Das hilft selbstverständlich allen TN, aber insbesondere blinden und sehbeeinträchtigten Menschen, Personen mit Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten, Menschen mit einer anderen Erstsprache als jener im Unterricht sowie Gebärdensprach-Dolmetscher*innen und Assistenzpersonen.[7]
Dokumente benötigen prinzipiell eine übersichtliche Struktur und Inhalte sollen optional in vereinfachter Form darstellbar sein, ohne dass dadurch Informationen bzw. Struktur verloren gehen. Es empfiehlt sich daher, Textdokumente und Präsentationsfolien mit Formatvorlagen zu erstellen sowie gegebenenfalls Inhaltsverzeichnisse einzufügen, sodass Screenreader und andere assistive Technologien Überschriften und deren Hierarchien als solche erkennen. Weiters gibt es Empfehlungen für Schriftgröße und Schriftart (Serifenschriften für Printpublikationen und serifenlose Schriften für digitale Texte und das Internet). Sprache und Abkürzungen sollten zudem im Dokument gekennzeichnet werden und Tabellen unter anderem Spalten- und Reihenüberschriften enthalten. Tabellen dürfen weiters nur für tabellarische Daten genutzt werden, nicht um Texte und Bilder auszurichten, oder für das Layout einer Seite.
Die MINT-Disziplinen bzw. -Fächer sind aufgrund der häufigen Verwendung von Formeln eine besondere Herausforderung für digitale Barrierefreiheit. Formeln dürfen nicht als Grafiken dargestellt werden, da sie so für blinde und sehbehinderte Personen nicht erfassbar sind. Geeignete Anwendungen sind MathML (ein XML-Dokumenttyp zur Darstellung von Formeln), die browserübergreifende Java-Script Bibliothek MathJax und der Einsatz von MathPlayer, der kompatibel mit dem freien Screenreader NVDA ist. Auch für gängige Programme wie LaTeX gibt es Anleitungen hinsichtlich der Erstellung barrierefreier Dokumente.[8]
Verweise auf andere Dokumente bzw. URLs werden nach Möglichkeit durch Verlinkungen gekennzeichnet, die mit der Tastatur allein (d.h. ohne Maus) an-steuerbar sind. Als Linktext verwendet man idealerweise den (verkürzten) Titel des Dokuments, nicht die URL (diese liegt „verlinkt“ dahinter), es sei denn, es handelt sich um eine Print-Publikation. Der Linktext sollte keine Handlungsanweisungen wie z.B. „Klicken Sie hier“ enthalten, da solche Anweisungen keine ausreichenden Informationen für die Navigation von Screenreadern enthalten.
Detaillierte Informationen dazu bietet beispielsweise der Leitfaden zur Erstellung barrierefreier Dokumente von Nadine Sohn (2018) für die Technische Hochschule Köln (mit Schritt-für-Schritt-Anleitungen und Abbildungen). Eine kompaktere Handreichung für Lehrende mit allgemeingültigen Hinweisen bietet die Universität Graz in ihrer Handreichung für eine inklusive Lehre (Muhl, Levc, & Breyer, 2018).
Grafiken, Farben und Animationen
Grafiken, Bilder und andere nicht-textliche Inhalte müssen – sofern sie relevante Informationen für Leser*innen enthalten – mit einem aussagekräftigen Alternativtext versehen werden. Schmuckgrafiken und andere dekorative Elemente wiederum sollten als solche gekennzeichnet sein. Bei der Gestaltung von Präsentationsfolien und Grafiken ist insbesondere auf ausreichenden Kontrast sowie auf Rot-Grün-Sehschwächen und andere Farbfehlsichtigkeiten Rücksicht zu nehmen. Statistisch gesehen haben zirka 8 Prozent aller Männer und 0,4 Prozent aller Frauen in Österreich und Deutschland eine Rot-Grün-Sehschwäche; eine vollständige Farbenblindheit, bei der nur Kontraste (hell/dunkel) wahrgenommen werden, betrifft zirka 5 Prozent der Bevölkerung.[9] Farben dürfen daher nie das alleinige Merkmal sein, um Illustrationen wie Diagramme oder Grafiken zu verstehen und sollten grundsätzlich mit Bedacht eingesetzt werden. Bei Präsentationsfolien ist zu bedenken, dass das Animieren von Text und Objekten (z.B. blinkende Elemente) bei TN mit Fotosensibilität epileptische Anfälle auslösen kann und für Screenreader-Nutzer*innen gänzlich ungeeignet ist. Andere Menschen werden durch solche Elemente vielleicht (überdurchschnittlich) stark abgelenkt und können sich nicht mehr auf die Inhalte konzentrieren.
Barrierefreiheitsprüfung und barrierefreie PDFs
Viele Autor*innenwerkzeuge und Programme haben eine Barrierefreiheitsprüfung bereits inkludiert. Ersteller*innen werden damit auf Probleme aufmerksam gemacht und erhalten gleich Anleitungen zur Behebung präsentiert. Ein Selbsttest mit dem freien Screenreader NVDA (Non Visual Desktop Access) für Windows oder mit VoiceOver für MacOS kann ebenfalls Erkenntnisse bringen. Gleichzeitig ist es ratsam, die Meinung von Expert*innen einzuholen, um nicht auf wesentliche Dinge aus Unwissenheit zu vergessen.
Die Erstellung von barrierefreien PDFs ist nach erfolgter Barrierefreiheitsprüfung in Microsoft Office (z.B. Word und PowerPoint) über die Speicher-Funktion möglich. Das fertige Dokument sollte allerdings mit dem Editor von Adobe Acrobat Pro weiter optimiert und angepasst werden, um für Screenreader vollständig barrierefrei zugänglich zu sein. Wichtig ist in jedem Fall, PDF-Dokumente nicht beispielsweise über die integrierte Druck-Funktion in Microsoft Office zu erstellen, da damit viele zuvor generierte Elemente der Barrierefreiheit wieder verloren gehen.Barrierefreie (Lern-)Videos und Audiodateien
Viele Grundsätze, die für die Erstellung von barrierefreien Textdokumenten gelten, sind für barrierefreie (Lern-)Videos und Audiodateien ebenfalls relevant. Das Bereitstellen von Transkripten und die Erstellung von Untertiteln (mit Beschreibungen von relevanten Geräuschen) folgen wieder dem Zwei-Sinne-Prinzip. Das kommt Menschen mit Hörbehinderung oder Leseschwächen, Personen diverser Erstsprachen sowie mobilen Nutzer*innen zugute. Letzteren speziell dann, wenn sie keine Kopfhörer griffbereit haben bzw. sich in einer lauten oder öffentlichen Umgebung befinden. Näheres findet sich bspw. im Leitfaden von Stefanie Lietze & Gerd Krizek der Fachhochschule Technikum Wien.[10]
Die Audio- bzw. Videoaufzeichnung von ganzen Unterrichtseinheiten im Präsenzunterricht schafft ebenfalls Zugang für eine breitere Personengruppe. Solche Aufzeichnungen kompensieren unter anderem Abwesenheit, ersetzen bzw. ergänzen die eigene Mitschrift, erlauben ein mehrmaliges Anhören bzw. Ansehen sowie die Lautstärkeregelung der Aufzeichnung und ermöglichen die Transkription der Inhalte.
Untertitel und Audiodeskriptionen
Untertitel sollten nicht länger als zwei Zeilen sein, semantisch nach Sinneinheiten aufgeteilt werden und lange genug eingeblendet bleiben, um das Lesen nicht zu erschweren. Sie sollen zudem keine wesentlichen Inhalte, wie z.B. Text, in der unteren Bildmitte des Videos, verdecken, was bereits in der Phase der Videoproduktion beachtet werden kann. Für gehörlose Menschen sollten relevante Geräusche zudem mit Text beschrieben werden.
Werden Untertitel für Videos erstellt, können diese je nach Plattform auf der sie hochgeladen werden (z.B. YouTube oder Vimeo) als „.srt“-Dateien separat hinzugefügt werden, so dass diese bei Bedarf von den Nutzer*innen eingeblendet werden können (Soft Subtitles). Bei anderen Video-Playern ist es gegebenenfalls nötig, die Untertitel bereits während der Erstellung im verwendeten Videoprogramm einzukodieren (Hard Subtitles), was zeitaufwändig sein kann.
Viel (zeit-)aufwändiger als die Erstellung von Untertiteln ist derzeit noch die Produktion von Audiodeskriptionen (verbale Beschreibungen von visuellen Inhalten), da es dafür noch keine automatisierten Lösungen gibt. Audiodeskriptionen sind eine Möglichkeit für blinde und sehbehinderte Menschen, um Videos, in denen Informationen über Handlung, Personen und deren Emotionen oder Schauplätze über das Bild transportiert werden, allein durch Hören wahrzunehmen. Die Sprecher*innen sind dabei neutrale Beobachter*innen aus dem Off. In der Praxis werden hierfür oft professionelle Unternehmen beauftragt. Allerdings kann bereits in der Konzeptionsphase des Videos auf Barrierefreiheit Rücksicht genommen werden, um sicherzugehen, dass von Beginn an nach Möglichkeit ein Zwei-Sinne-Prinzip gewahrt wird.Barrierefreie Didaktik
Die vielfältigen Möglichkeiten, mit technischen Hilfsmitteln Barrierefreiheit zu erreichen, greifen zu kurz, sofern nicht im Präsenzunterricht selbst Leitlinien für barrierefreie Didaktik berücksichtigt werden. Dabei ist es ebenso wichtig, das Zwei-Sinne-Prinzip anzuwenden. Ein (Lehr-)Vortrag wird für Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung erst dann wahrnehmbar, wenn eine Induktionsanlage vorhanden ist bzw. ein Mikrofon verwendet wird. Der ausgedruckte Vortrag, parallel zu den auf die Wand projizierten Folien mit Stichpunkten, hilft Personen mit Aufmerksamkeits- oder Konzentrationsstörungen bzw. kognitiven Beeinträchtigungen ebenso wie Menschen mit einer anderen Erstsprache. Kollaboratives und synchrones Arbeiten mit digitalem Whiteboard oder Etherpad bzw. die Teilnahme am Lernquiz in der Präsenzeinheit ist vielleicht nicht für alle möglich – sei es aufgrund einer sensorischen, motorischen oder kognitiven Beeinträchtigung, oder weil nicht alle über die entsprechenden technischen Geräte verfügen (Stichwort: digitale Ausgrenzung). Hier kann mit variablen Teilnahmemethoden bzw. mit Gruppenarbeiten ein Zugang für alle ermöglicht werden. Doch auch für Gruppenarbeiten gilt, dass sie nicht immer für alle geeignet sind: Während sie für manche TN klare Vorteile bringen, sind laute Umgebungen und das gleichzeitige Sprechen mehrerer Personen für andere womöglich hinderlich und für Menschen mit Angsterkrankungen oder sozialen Phobien vielleicht unmöglich. Hörgeräte unterscheiden im Übrigen nicht zwischen Gesprochenem und Hintergrundgeräuschen – die Lehrperson hat also die Aufgabe, für Ruhe im (digitalen) Klassenzimmer, Seminarraum und Hörsaal zu sorgen. Ein gut durchdachter und auf die Zielgruppe abgestimmter Methodenmix ist deshalb unumgänglich.
In jedem Fall gilt es, sich bereits im Vorfeld Gedanken zu den allenfalls unbewusst aufgestellten Hürden und „Be-hinderungen“ zu machen und mögliche Bedürfnisse zu antizipieren. Das Um und Auf ist dabei, auf die Bedürfnisse einzelner TN einzugehen und gegebenenfalls Adaptierungen an den Lernsettings vorzunehmen. Dafür ist es ratsam, TN aktiv zum persönlichen und vertraulichen Gespräch einzuladen. Das gelingt durch die Schaffung eines Gruppenklimas, in dem sich jede*r willkommen und respektiert fühlt. Dies wiederum kann durch einen entsprechenden Verweis in der Kursbeschreibung bzw. im Syllabus sowie im Lernmanagementsystem erfolgen. Gleichsam wird es nötig sein, andere TN in der Gruppe für die Themen Barrierefreiheit und Inklusion zu sensibilisieren. Es sollte nicht so sein, dass TN mit Behinderung bzw. Beeinträchtigung ihre Kolleg*innen immer selbst aufklären müssen. Lehrpersonen tragen somit Verantwortung, was diversitätssensible und barrierefreie Kommunikation anbelangt.Digitale Inklusion und Diversität
Digitale Inklusion bedeutet, sich Gedanken darüber zu machen, wie andere Identitätskategorien von TN Einfluss auf deren Studierendenalltag haben können und wie LP rücksichtsvoll und sensibel mit Diversität umgehen können. Nachfolgend sind exemplarisch drei Beispiele genannt:
- Digitale Inklusion kann bedeuten, dass Vorstellungsrunden – egal ob online oder in Präsenz, digital oder analog – die freiwillige Nennung von Pronomen und gewählten Namen beinhalten können, sodass Trans- und Interpersonen sowie Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität richtig angesprochen werden. Idealerweise ermöglicht das verwendete Videokonferenztool den TN ihren Namen selbst einzutragen, damit kein ungewolltes Outing vor der gesamten Gruppe stattfindet, wenn der Name in Urkunden und auf dem Studierendenausweis vielleicht – noch – nicht mit dem gewählten Namen übereinstimmt (siehe der Leitfaden trans. inter*. nicht-binär., herausgegeben von der Akademie der Bildenden Künste Wien).
- Digitale Inklusion kann bedeuten, als LP zu respektieren, wenn TN ihre Kameras nicht immer einschalten möchten oder können und andere Wege zu finden, ihre aktive Mitarbeit festzustellen. Das Nichtverwenden von Videokameras kann neben unzureichender technischer Infrastruktur beispielsweise mit den persönlichen Lebensumständen zu Hause zusammenhängen, wie der Notwendigkeit „nebenbei“ Kinder zu betreuen oder der Tatsache, dass vielleicht andere Personen im gemeinsamen Haushalt leben, mit denen der Home-Arbeitsplatz geteilt wird oder. Ein Grund kann außerdem sein, dass das eigene Videobild eine mögliche Angsterkrankung verstärken kann, sodass eine Konzentration auf die Inhalte unmöglich wird.
- Bei gelebter digitaler Inklusion werden TN Wahlmöglichkeiten geboten, z.B. bei der Art und Weise, wie Präsentationen in der Online-Lehre durchgeführt werden können – synchron oder asynchron mittels Aufzeichnung über unterschiedliche Medien. Somit können Personen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen Möglichkeiten finden, sich nach ihren Fähigkeiten angemessen zu beteiligen und die für sie passende Präsentationsform auswählen. Darüber hinaus erlaubt die Option, die eigene Präsentation aufzuzeichnen, mehrere Aufnahmeversuche, was z.B. Personen mit anderer Erstsprache genauso entgegen kommen kann wie introvertierten Menschen mit Lampenfieber und Präsentationsangst.
Um digitale Inklusion zu leben, sind mitunter folgende Fragen für die LP sinnvoll:
- Wie stelle ich sicher, dass ich meine TN – egal welchen Geschlechts, egal welcher Herkunft oder sozialer bzw. ökonomischer Voraussetzungen und egal mit welchen Lernbedürfnissen und welchen Alters – bestmöglich individuell auf dem Weg zum Lernerfolg begleiten kann?
- Mache ich mir Gedanken über meine eigenen „blinden Flecken“ was Diversitätskategorien angeht?
- Wie werde ich mir der Diversität in meiner Lehrveranstaltung bewusst?